Anbei eine Kurzgeschichte, die ich für einen Wettbewerb in der Buchhandlung Bärsch in Flörsheim geschrieben habe. Das Thema ist: „Ein Wanderer zwischen den Welten“.
Anmerkungen und Kritik gern in die Kommentare oder als Mail an mich 🙂
Das letzte Portal
Dajana schlug ihre Axt fest in den Schädel des Krabblers, blutige Stückchen flogen in alle Richtungen. Sie wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn und wollte ihre Waffe wieder zu sich ziehen, doch sie steckte fest. Mit einem kräftigen Fluch warf sie einen schnellen Blick zu ihrer Fallgrube, dann stellte sie ihren Fuß auf die Brust des Krabblers und zog mit beiden Händen am Stiel der Axt. Als sich der Axtkopf mit einem schmatzenden Geräusch aus dem zerschmetterten Körper löste, hätte sie fast das Gleichgewicht verloren. Sie schaffte es, sich abzufangen, konnte aber ein schmerzerfülltes Schnaufen nicht unterdrücken. Ein schabendes Geräusch vor ihr ließ sie den Kopf heben. Durch die Tränen, die ihr in die Augen geschossen waren, konnte sie nur schemenhaft sehen. Sie schlug in die Richtung zu, aus der sie die Geräusche gehört hatte, und traf. Blinzelnd gab sie den am Boden liegenden Krabbler den Rest, dann drückte sie eine Hand in ihren verkrampften Rücken und streckte sich ächzend.
Es sah irgendwie nicht so aus, als wollte die Sonne so bald aufgehen. Die Fallgrube, die sie noch mit ihrem Vater angelegt hatte, war bereits voller toter Krabbler. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit konnten sie einfach über die Leichen ihrer Artgenossen direkt zu ihr gelangen. Diese Nacht zog und zog sich.
Na, es half ja alles nichts. Sie fasste die Axt wieder mit beiden Händen und richtete ihre grauen Augen entschlossen auf die Fallgrube, aus der gerade der nächste Krabbler herauskam und in ihre Richtung kroch. Sie konnte sein Stöhnen hören. Er bewegte sich auf allen Vieren auf sie zu, das taten sie meistens. Wo auch immer sie herkamen, ihre Körper waren nicht gut konserviert. Meistens hatten sie die Fähigkeit verloren, auf zwei Beinen zu gehen, weil ihre Körper schon so zerfallen waren. Seine blicklosen Augen starrten nach vorne, der Mund war weit aufgerissen. Sie betrachtete ihn emotionslos, sie hatte schon viel zu viele von ihnen getötet, als dass es sie noch berührte.
Mittlerweile konnte sie sich gar nicht mehr richtig daran erinnern, wie es vorher gewesen war. Sie hatte auf dem Hof ihrer Eltern gelebt, sie bei der täglichen Arbeit unterstützt und ein anstrengendes, aber gutes Leben geführt. Ihre Axt hatte sie höchstens zum Holzhacken geführt. Aber das fühlte sich so weit entfernt an, als wäre es Jahrtausende her. Die Gebäude waren zerstört, die Tiere waren nacheinander gestorben, die Felder lagen brach. Alles war zu Asche vergangen. Jetzt zählte für sie nur das Überleben. Jede Nacht kämpfte sie, und bisher hatte sie es geschafft. Sie würde nicht aufgeben und den Krabblern den Weg zum Dorf öffnen. Nicht, so lange sie noch atmete. Durch die Wucht ihres Schlags fiel der Krabbler stöhnend zurück Richtung Fallgrube. Nein, aufgeben war keine Option. Nicht, nachdem ihr Vater dieses Opfer für sie gebracht hatte. Dabei war es ihr Fehler gewesen, sie hatte nicht aufgepasst, er hatte ihr geholfen und dann hatten sie ihn erwischt. Der nächste Krabbler fiel mit zertrümmertem Schädel zu Boden. Das würde sie sich nie verzeihen. Sie biss die Zähne zusammen und schob den leblosen Körper mit dem Fuß zur Seite, damit sie Platz zum Stehen hatte. Seit er nicht mehr da war, trug sie als Erinnerung die klobigen Stiefel ihres Vaters, obwohl sie ihr ein gutes Stück zu groß waren.
Noch immer kamen immer neue Gegner durch das Portal vor ihr. Es leuchtete jedes Mal auf, bevor eins der Wesen hindurchtrat, aber sie sah gar nicht mehr hin. Sie hatte schon unzählige Male abends hier gestanden und auf das erste Aufleuchten gewartet. Dann wusste sie, es ging wieder los. Direkt vor dem Portal hatten sie eine Barrikade aus grob behauenen Baumstämmen aufgebaut, die nur an einer schmalen Stelle einen Durchgang ließ. Das war eine Idee ihres Vaters gewesen, damit sich die Krabbler an einer Stelle sammelten und am besten noch selbst beim Weiterkommen behinderten. Direkt dahinter lag die Fallgrube, mit einer Menge angespitzter Pfähle im Boden und an den Seiten. Hier wurden die Krabbler festgehalten, wenn sie Glück hatte. Irgendwann jedoch half auch die Grube nichts mehr.
Jede Nacht kämpfte sie hier. Sie machte weiter, auch wenn sie nicht mehr konnte, wenn ihre Muskeln schmerzten und ihr Atem nur noch keuchend ging.
Sie zog die nächsten Leichen zur Seite. Bei der Menge an Gegnern musste sie aufpassen, dass sie sich nicht selbst Hindernisse baute, die sie zu Fall brachten. Wenn sie erst einmal am Boden war und ein Krabbler kam, dann war es das für sie.
Plötzlich krachte es vor ihr, und ihre Barrikade, die während der letzten vier langen Jahre immer gute Dienste getan hatte, explodierte in einer Feuerwalze. Kleine Splitter flogen bis zu ihr und prasselten auf den Boden. Sie riss den Kopf hoch und starrte fassungslos zum Portal, vor dem eine Gestalt stand, die definitiv kein Krabbler war. Sie hatte die Arme weit ausgebreitet, eine zu große Robe hing von ihrem hochgewachsenen, aber anscheinend ziemlich schlaksigen Körper. Auf dem Kopf saß ein weiter Hut mit breiter Krempe, die Spitze hing nach hinten. In der Hand hielt sie einen knorrigen Stab und sah damit genau aus, wie die Zauberer in den ganzen Geschichten, die ihre Mutter immer erzählt hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. Die Gestalt schien sich ihres dramatischen Auftrittes genau bewusst zu sein, denn sie hob den Kopf und Dajana kniff die Augen zusammen, um unter dem Schatten der Hutkrempe einen Blick auf ihr Gesicht werfen zu können. „Jetzt wird alles gut!“, rief die Gestalt, die Stimme klang männlich. „Dein Retter ist da!“
Dajana schnaubte, warf ihre langen, schmutzigblonden Haare über ihre Schulter und stemmte die Hand in die Hüfte. Die Axt stützte sie mit dem Kopf nach unten neben sich auf den blutgetränkten Boden. „Und wer soll das sein?“
Er schob seinen Hut zurück, rote Locken quollen unter der Krempe hervor. Seine Nase war spitz, sein mit Sommersprossen übersätes Gesicht schmal und er trug eine Brille, die seine braunen Augen unnatürlich vergrößerte. „Ich bin Fiorn, der Wandler durch die Welten“, verkündete er. „Es ist meine Mission, alle Portale zu finden und wieder zu schließen, damit die Welten wieder sicher sind vor den Wiedergängern.“ Seine getragenen Worte schallten über die Fallgrube zu Dajana.
Sie zog eine Augenbraue hoch. „Wie ein Retter siehst mir jetzt nicht unbedingt aus. Und was ist das für ein lächerlicher Hut?“
Er starrte sie überrumpelt an. „Das ist der Hut meines Meisters“, sagte er, zutiefst empört. In dem Moment sah sie, dass direkt hinter ihm das Portal wieder aufleuchtete.
„Vorsicht!“, schrie sie und zeigte hinter ihn.
Er fuhr herum und tat etwas, mit seinem Stab oder seinen Händen, sie konnte es nicht genau sagen. Der Krabbler, der gerade aus dem Portal trat, zerbröselte zu schwarzem Staub.
„Danke“, sagte Fiorn kleinlaut, dann nahm er Anlauf, sprang über die Fallgrube und landete neben ihr. Seine Füße gruben sich durch den Aufprall etwas in den harten Boden.
Dajana schürzte anerkennend die Lippen. „Nicht schlecht. Sieht aus, als wärst du mir bei meiner Arbeit zumindest nicht im Weg. Nachdem du schon meine Barrikade zerstört hast.“ Sie zeigte auf die Holzsplitter, die überall herum lagen.
Er ließ seinen Stab lässig in der Hand wirbeln. „Ich habe schon so einige Wiedergänger gejagt und getötet.“
„Mh.“ Dajana trat nach vorne und schlug zu. Ihre Axt grub sich in die Seite eines Krabblers, der gerade von der Fallgrube her kam, und schleuderte ihn zur Seite. Sie folgte ihm und zielte auf seinen Kopf. Erst wenn man ihnen den Kopf abschlug oder ihren Körper zerstörte, waren sie wirklich tot. Eine Lektion, für die sie vor langer Zeit einiges an Blutgeld bezahlt hatten. Die Axt sauste nach unten, es knirschte. „Also du kannst nun zwei Dinge tun“, sagte sie und trat wieder neben Fiorn. „Entweder du passt nun auf und hilfst mir hier“, ihre grauen Augen funkelten streng, „oder du haust ab und stehst mir nicht mehr im Weg herum.“
Er zog schuldbewusst den Kopf ein, dann griff er seinen Stab fester. Sie hätte schwören können, er war etwas blasser um die Nase als eben noch. „Ich helfe dir“, sagte er. „Immerhin ist es meine Mission.“
Dajana musterte ihn von oben bis unten. Wenn er hier so nah neben ihr stand, wirkte seine Robe abgenutzt und schäbig. Er griff schnell nach seinem Hut und hängte ihn an einen Pfosten, der neben ihnen in den Boden geschlagen war. Seine Haare standen in alle Richtungen von seinem Kopf ab. Dann schob er mit einem Finger seine Brille hoch und schaute sie entschlossen an. „Ich habe es versprochen“, sagte er.
Und dann kam eine neue Welle Krabbler aus dem Portal heraus. Nachdem die Barrikade nicht mehr da war, kamen sie nicht mehr langsam einer nach dem anderen auf sie zu, wie Dajana es gewöhnt war. Zwar bewegten sie sich nicht schnell, sie krochen eher, daher auch der Name, den ihr Vater ihnen gegeben hatte, aber es waren einfach unglaublich viele. Fiorn war eine echte Hilfe, er verbrannte so einige der Wesen zu Asche, aber langsam konnte sie wirklich nicht mehr. Jeder Knochen tat ihr weh. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal sich so sehr den nächsten Morgen herbeigewünscht hatte. Aber ging es ihr nicht jede Nacht so, wenn sie ehrlich war? Sie richtete sich auf und streckte sich leicht schwankend. Ihr Bein brannte wie Feuer, und sie schwitzte. Zum wiederholten Mal ließ sie ihren Blick zu den Bergen gleiten. Da war er endlich! Der dünne rosa- und orangefarbene Streifen, der langsam breiter wurde und die aufgehende Sonne ankündigte.
Als der letzte Krabbler endlich auf den fleckigen Boden gefallen war, atmete sie tief aus und verstaute ihre Axt in den Lederriemen auf ihrem Rücken. Wieder eine Nacht überstanden. Fiorn trat neben sie und öffnete den Mund, vielleicht wollte er ihr eine Frage stellen, doch sie schob sich an ihm vorbei, ergriff die am nächsten liegende Leiche an den Handgelenken und zog sie hinter sich her. Sie war noch nicht fertig mit ihrer Arbeit für heute. Sie schleppte den Körper auf einen großen Platz, dessen Boden schon ganz geschwärzt war, und ließ ihn dort in der Mitte liegen.
„Machst du das jetzt mit allen?“, fragte Fiorn, die Augen vor Verwunderung weit aufgerissen. „Warum?“
Sie antwortete nicht darauf. Ihre letzte verbleibende Kraft musste sie sich gut einteilen. Ein Schritt nach dem anderen, wieder zurück zum Portal.
„Hinkst du?“, fragte Fiorn, der neben ihr ging. „Bist du verletzt?“
Sie verdrehte die Augen. Das fiel ihm aber wirklich früh auf. Hoffentlich verschwand er wieder so schnell, wie er gekommen war.
Als sie nichts sagte, griff auch er nach einer Leiche und half, sie zu dem Ablageplatz zu schleppen. Zu zweit waren sie schneller als sie sonst allein, aber es dauerte trotzdem ganz schön lange. Eigentlich brauchte sie keine Hilfe. Sie hätte es gut auch allein geschafft.
Es wurde ein riesiger Berg Leichen. Sie verteilte Holzstücke zwischen den ausgemergelten Körpern, die sie mit Öl getränkt hatte und zündete den Haufen an. Fiorn stand mit großen Augen neben ihr und beobachtete schweigend, was sie tat. Die schwarze Qualmwolke, die in den Himmel aufstieg, stank fürchterlich.
Völlig erschöpft schleppte sich Dajana zurück zum Haus, oder besser gesagt zu dem, was einmal das Haus gewesen war. Sie betrat durch einen zerbröckelnden Torbogen den Innenhof, auf dessen einer Seite die Ställe lagen, von denen mittlerweile nur noch die Mauern standen. Auf der anderen Seite lag das Wohnhaus. Es regnete durch das Dach, doch sie hatte keine Zeit und keine Kraft, um es zu reparieren. So benutzte sie nur das Untergeschoss. Wenn sie hier war, schlief sie sowieso meistens völlig erschöpft, um sich für die Nacht auszuruhen. Sie stieg die drei Treppenstufen zur schweren hölzernen Eingangstür hinauf, die merkwürdigerweise fast unversehrt war, und öffnete die Tür. Ein kleines weißes Fellbündel schoss kläffend heraus und stürzte sich freudig auf sie. Sie bückte sich ächzend und strich ihm sanft über das Fell, dann ging sie wieder nach unten in den Hof. Der Hund folgte ihr aufgeregt, um Fiorn zu begrüßen. Es war lange Zeit her, dass er einen anderen Menschen gesehen hatte außer Dajana.
„Das ist Fussel“, sagte sie erklärend zu Fiorn. Als er die Augenbrauen hob, zuckte sie nur mit den Achseln. „Frag lieber nicht.“
„Wie heißt du denn eigentlich?“, fragte er stattdessen.
Stimmt, sie hatte ihm ja noch gar nicht ihren Namen gesagt! „Dajana.“
In der Mitte des Innenhofs befand sich ein tiefer Brunnen, den ihr Vater als junger Mann selbst gegraben hatte, als sie den Hof aufgebaut hatten. Dajana zog mit schwachen Armen einen Eimer voller frischem Wasser nach oben, griff mit beiden Händen hinein und trank durstig. Dann wusch sie sich flüchtig das Gesicht. Da Fiorn noch neben ihr stand und keine Anstalten machte, wegzusehen, wurde es heute eben nur eine Katzenwäsche. Als sie für ihn auch einen Eimer nach oben zog, bemerkte sie, wie er sie anstarrte.
„Was?“, knurrte sie.
Er wurde knallrot. Da er sowieso sehr helle Haut hatte, gab das einen sehr ungewöhnlichen Farbton. „Unter der Schmutzschicht bist du ja richtig hübsch“, sagte er und schlug schnell die Hand vor den Mund.
Sie grummelte etwas, was nicht sehr nett klang, und stellte den Eimer hart auf die Mauer des Brunnens. Dann drehte sie sich mit einer schnellen Bewegung um und wollte nach drinnen gehen, sie wollte nur noch etwas zu Essen und dann ins Bett. Und Ruhe. Ruhe wäre wirklich himmlisch. Sie hatte jedoch nicht an ihr Bein gedacht, das gegen die wütende Bewegung protestierte. Mit einem Aufschrei fiel sie zu Boden. Dabei stieß ihr Kopf gegen die Brunnenmauer, und ihr wurde schwarz vor Augen.
„Lauf weg!“, schrie ihr Vater sie an, doch sie konnte sich nicht bewegen. Die Axt lag vor ihr auf dem Boden, doch sie konnte sie nicht aufheben. Sie sah, wie die Krabbler ihn zu sich zogen und sich auf ihn stürzten. Ihre Zähne in ihn schlugen und ihn mit ihren Krallen zerfetzten.
„NEIIIIIN!“ Sie setzte sich panisch um sich schlagend auf und wollte loshetzen, doch jemand hielt sanft, aber bestimmt ihre Arme fest.
Ein roter Lockenschopf tauchte vor ihren Augen auf. „Es war nur ein Traum“, sagte Fiorn beruhigend. „Nur ein Traum. Nicht die Wirklichkeit.“ Er ließ sie los.
„Wenn du wüsstest“, stöhnte Dajana und griff sich an den Kopf. Ihre Finger berührten eine dicke Beule. Sie blinzelte, um die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen, und schluckte hart. Dann ließ sie sich ins Kissen zurücksinken. „Habe ich lange geschlafen?“, fragte sie. Fussel kam von irgendwoher angeflitzt und sprang aufs Bett. Er landete mit allen vier Pfoten zielsicher in ihrem Magen, doch sie lächelte und drückte den kleinen Hund an sich.
„Nicht wirklich“, sagte Fiorn. „Es ist noch nicht mal Mittag.“ Er erhob sich. „Hast du Hunger?“
Sie horchte in sich hinein. Die letzten Tage hatte sie sich so schwach gefühlt, aber jetzt knurrte ihr richtig der Magen. „Wie ein Bär“, sagte sie.
Er blieb im Türrahmen stehen und sah sie an. „Ich habe mir dein Bein angeschaut. Es sah ziemlich schlimm aus. Noch ein paar Tage, und ich hätte nichts mehr für dich tun können.“
Dajana schaute auf die Stelle der Bettdecke, unter der sich ihr krankes Bein befand.
„Ich habe die Wunde gesäubert und es neu verbunden“, sagte Fiorn. „Hast du nicht gemerkt, dass du Fieber hattest?“
Sie hob die Schultern. „Was hätte ich denn tun sollen? Ich kann doch hier nicht weg. Wenn ich nicht mehr kämpfen kann, stürmen die Krabbler das Dorf.“
Er nickte ernst. „Es wird Zeit, dass ich das Portal schließe.“ Dann verschwand er im Flur, und Dajana hörte ihn wenig später in der Vorratskammer kramen. „Viele Vorräte hast du ja nicht mehr!“, rief er laut.
Dajana antwortete nicht. Es wäre schon lange mal an der Zeit gewesen, wieder zum Einkaufen ins Dorf zu gehen, aber die Dorfbewohner sahen sie immer so argwöhnisch an. Außerdem war sie jeden Tag froh, wenn sie ihre Arbeit geschafft hatte und schlafen konnte. Ob er wirklich das Portal schließen konnte? Sie wagte es gar nicht zu hoffen. Noch nicht mal dran denken wollte sie.
Als Fiorn zurückkam, balancierte er eine Schale mit Haferbrei und eine Tasse mit heißem Tee in den Händen. „Ich habe sogar noch ein Glas mit Honig gefunden“, sagte er stolz. „Ganz hinten im Vorratsschrank.“ Er zog sich einen Stuhl heran und nahm neben ihr Platz.
„Ich koche nicht so oft“, sagte sie. „Keine Zeit.“
Er sah sie prüfend an, die Stirn über seinen braunen Augen zusammengezogen. „Warst du die ganze Zeit hier?“, fragte er dann langsam. „Die ganzen vier Jahre? Und hast jede Nacht gegen sie gekämpft?“
Sie nickte, den Mund voller Haferbrei.
„Oh.“ Er schloss die Augen, wandte den Kopf und rieb sich den Hinterkopf, dass seine roten Locken noch wilder abstanden. Dajana fand, er sah schuldbewusst aus.
Sie setzte sich im Bett auf, durch die schnelle Bewegung schwankte der Raum um sie herum, doch sie nahm es gar nicht zur Kenntnis. „Hast du damit etwas zu tun? Du hast mir noch gar nicht gesagt, was du hier willst.“ Ihre Stimme klang hart.
„Ich… ähm…“ Fiorn schluckte, dann gab er sich einen Ruck. „Na gut.“ Er setzte sich gerader hin. „Ich bin der Lehrling von Tianrion dem Großartigen.“ Sein Gesichtsausdruck zeigte, dass er nun irgendeine Reaktion ihrerseits erwartete, doch sie zog nur eine Augenbraue hoch.
„Sagt mir nichts“, sagte sie und nahm einen Löffel Haferbrei. Der war wirklich gut. Sie warf ihm einen drohenden Blick zu, damit er nicht dachte, dass er nun in Sicherheit wäre.
„Wirklich nicht?“, er schien enttäuscht. „Eigentlich kennt man ihn in vielen Welten. Weil er eben, nun ja, großartig ist.“
Dajana seufzte. „Und worauf willst du nun genau hinaus?“
„Also mein Meister ist…“, er seufzte, „…er war nicht nur ein richtig guter Magier, er war auch sehr gelehrt.“
„Er lebt nicht mehr?“
Er schüttelte traurig den Kopf. „Er ist vor einer Weile gestorben und ich habe ihm versprochen, etwas für ihn zu tun. Irgendwie kann ich immer noch nicht fassen, dass er weg ist. Lass mich von vorne anfangen, ja?“
Sie machte eine auffordernde Handbewegung. Irgendwie war sie nun doch gespannt. Ganz insgeheim.
„Mein Meister hat sich zur Aufgabe gemacht, in allen möglichen Welten verlassene Tempel und Grabstätten zu erkunden, immer auf der Suche nach alten Schriften, um seine Macht noch zu vergrößern. Eines Tages kam er von einer solchen Reise zurück zu unserem Turm, und nachts begann es dann.“
Plötzlich hatte Dajana ein ganz ungutes Gefühl. „Was begann?“, fragte sie.
„Die Wiedergänger kamen zu unserem Turm und wollten Einlass. Sie waren auf der Suche nach etwas. Wir wussten nicht genau, was es war, aber es war wohl etwas, das mein Meister in der letzten Ruine gefunden und mitgebracht hatte. Er hatte einen ganzen Beutel voller Gegenstände, Schmuckstücke, Schriftrollen und so weiter, die er… ähm… für seine Studien mitgenommen hat.“
„Hm“, machte Dajana. „Du meinst gestohlen.“
„Wie auch immer.“ Fiorn wedelte mit der Hand. „Wir hatten die Idee, die Gegenstände durch Portale in eine unbewohnte Welt zu schicken, damit die Wiedergänger ihnen folgen und wir uns in Ruhe darum kümmern können, herauszufinden, hinter welchem der Gegenstände genau sie hinterher waren.“
Dajana musste das Gesagte kurz auf sich wirken lassen. „Da hat dann ja wohl irgendetwas nicht geklappt“, sagte sie dann mit eisiger Ruhe. In ihr kochte es. „Wegen deinem dämlichen Meister habe ich die letzten vier Jahre damit verbracht, Krabbler zu töten! Weißt du eigentlich, was ihr da getan habt? Sie haben meine Eltern getötet und unseren Hof zerstört. Und wenn wir nicht gewesen wären, hätten sie das Dorf zerstört und wahrscheinlich wäre unsere Welt dann irgendwann wirklich unbewohnt!“
Fiorn zog schuldbewusst den Kopf ein. „Ich weiß“, sagte er kleinlaut. „Der Zauber ist schiefgegangen. Es tut mir unendlich leid. Ich glaube, ich kann das nie mehr wieder gut machen.“
„Nein“, sagte Dajana kalt und stellte die Schüssel auf den Nachttisch. Ihr war der Appetit gründlich vergangen. „Doch. Lass das Portal verschwinden, und dann dich. So schnell wie möglich.“
Er zögerte. „Als mein Meister kurz darauf im Sterben lag, habe ich ihm versprochen, mich darum zu kümmern. Ich bin durch alle Portale gegangen, die wir erschaffen haben, habe die Gegenstände gesucht und gefunden, und dann die Portale geschlossen. Ich habe vier Jahre lange gebraucht, bis ich sie alle gefunden hatte. Es war nicht leicht.“
„Was denkst du denn, wie es hier war?“, fauchte sie. „Also ein Spaziergang war es nicht, das kann ich dir sagen.“
Das schlechte Gewissen war deutlich in seinem Gesicht zu lesen. In seiner ganzen Haltung. „Ich bin durch die Portale in alle möglichen Welten gereist. Eiswüsten, Wasserwelten, riesige Dschungel, endlose Steppen. Eine Welt war nur von riesigen Käfern bevölkert, zum Glück konnte ich mich mit ihnen verständigen. Aber nirgends waren die Wiedergänger. Nirgends war es wie hier. Das hier ist das letzte Portal. Es muss es sein.“
Dajana rieb sich die Augen. Sie war so müde. Und gegen ihren Willen irgendwie fasziniert von seiner Erzählung. „Also ist der Gegenstand, den sie suchen, hier irgendwo?“ Sie kraulte geistesabwesend Fussel, der neben ihr im Bett lag und leise vor sich hin schnarchte.
Fiorn nickte. „Es sieht zumindest so aus. Hast du in den vier Jahren hier irgendwo einen Gegenstand gefunden, der hier nicht hingehörte?“
Sie lachte auf, doch es klang nicht fröhlich. „Der hier nicht hingehörte? Woher soll ich denn wissen, worauf ich achten muss? Außerdem war ich beschäftigt. Ich habe die ganze Zeit gegen deine Wiedergänger gekämpft“, zischte sie.
Fiorn jedoch war ganz aufgeregt. „Wenn wir diesen Gegenstand finden, kann ich ihn in die Ruine zurückbringen und das Portal schließen.“
Sie unterdrückte ein Zittern. Konnte sie vielleicht doch ein kleines Fünkchen Hoffnung wagen? Sie spürte, wie es ihr die Brust wärmte. Viel besser als sein Tee. Sie versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, ob ihr jemals in all der Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen war.
Fussel neben ihr fiepte im Schlaf und bewegte die Beine, als renne er. Sie schaute ihm zu und musste lächeln. Und dann wusste sie es. Sie beugte sich nach vorn und streckte die Hand nach Fussels Halsband aus, löste vorsichtig den Anhänger, der daran befestigt war, und legte ihn in Fiorns Hand.
„Das ist es?“, hauchte er beinahe ehrfürchtig.
Sie nickte. „Ich glaube schon. Ich habe es vor einiger Zeit etwas von dem Portal entfernt gefunden. Alle, die mir etwas bedeuteten, außer Fussel, waren schon tot. Und so habe ich es ihm geschenkt. Damit wenigstens er etwas Schönes hat.“ Sie sah auf den kleinen weißen Hund herunter, der aufgewacht war, als sie ihm den Anhänger vom Halsband löste. Nun saß er hechelnd neben ihr und wartete gespannt, ob sie vielleicht mit ihm spielte.
„Weißt du, was das bedeutet?“ Fiorn sah sie an, die Augen weit. „Ich kann ihn zurückbringen, und du musst nie mehr gegen die Wiedergänger kämpfen. Du könntest tun, was du willst.“
Der Funke Hoffnung in ihrer Brust loderte und wuchs. Was, wenn er Recht hatte? „Nimmst du mich mit?“, fragte sie. „Es zurückbringen, meine ich.“
„Du kannst auch danach mit mir mitkommen“, sagte er. „Eine Kriegerin wäre mir eine große Hilfe.“ Sein Kopf glühte.
Dajana lächelte ihn an. „Ich werde es mir überlegen.“ Dann schob sie die Decke zur Seite und stellte sich vorsichtig auf ihr dick bandagiertes Bein. Viel besser. Sie nahm Fussel auf den Arm. „Lass uns aufbrechen.“
Durch die Fenster des heruntergekommenen Bauernhauses hindurch leuchtete ein gleißend blauer Schein und erlosch wieder. Und sie waren verschwunden.
September 14, 2018 um 8:12 pm
Die Geschichte hat mich direkt in ihren Bann gezogen! Kompliment! Toll geschrieben!!!
September 14, 2018 um 8:27 pm
Danke Sabine <3 Schön, dass sie dir gefallen hat!
Mein erster Kommentar 😀
September 16, 2018 um 8:42 pm
Ich finde die Geschichte toll! Gleich zu Beginn ist man sofort mittendrin und saugt jedes Wort auf! Wirklich großartig geschrieben!
September 17, 2018 um 7:20 am
Oh, tausend Dank! Ich freu mich sehr <3